Wir und der November 1989

Nein, wir verschweigen das Datum nicht schamhaft. Es ist 20 Jahre her, da brach etwas zusammen, was uns eine Stütze und ein Halt war: Die Deutsche Demokratische Republik. Im Kern war zu dieser Zeit auch schon die Sowjetunion verfault. Die Last war zu groß geworden, lange verdeckte Widersprüche brachen auf und brachten das Gebäude des Staat gewordenen Sozialismus zum Einsturz. Wir wurden desillusioniert, verloren Hoffnungen, Freundschaften zerbrachen.

Haben wir doch viel verloren: Ein Beispiel, dass es möglich ist eine Gesellschaft zu errichten, zu erhalten und gegen Widerstände von außen und innen zu verteidigen, in dem nicht Banken und Konzerne, keine Spekulanten über das Schicksal der Menschen entschieden. Wo Bildung kein Privileg für eine Schicht war, sondern selbstverständliche Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Wo die höchste Form der Demokratie nicht war, alle paar Jahre seine Stimme abzugeben, sondern sie zu erheben. Wo hierzulande die Demokratie endet, vor den Toren der Betriebe und Verwaltungen, war sie dort am höchsten entwickelt. Soziale Rechte, das Gefühl, füreinander da zu sein, das vermissen die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR heute am schmerzlichsten – und wir vermissen das Beispiel. Frauenrechte waren höher entwickelt, armen und um ihre Rechte kämpfenden Ländern und Völkern wurde geholfen ohne Gegenleistungen zu fordern.

Das alles war noch unfertig und widersprüchlich. Den sozialistischen Staaten klebten noch die Eierschalen der alten Gesellschaft hinter den Ohren. Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit, der Demokratie gab es zu viele. Die Gegner des Sozialismus konnten das ausnutzen, nicht zuletzt durch ihre aus historischen Gründen überlegene Wirtschaftskraft.

Manche linken Freunde sehen das nicht so. Sie meinen, es wäre damals ein System zusammengebrochen, das den Ansprüchen nicht genügte, die an Sozialismus gestellt werden. Doch auch sie haben verloren: Die Länder, die zum Beispiel verhindert hätten, das Deutschland wieder einen Krieg führte, den dritten im 20. Jahrhundert gegen Jugoslawien. Der hemmungslose Zugriff des Kapitals auf die Rohstoffe, durchgesetzt mit Gewalt und Krieg, wäre nicht möglich gewesen. Der europaweite Aufschwung von Neonazismus und Fremdenfeindlichkeit – undenkbar. Als es noch einen Wettbewerb der Systeme gab, war das Kapital zu Zugeständnissen an die arbeitenden Menschen gezwungen. Seit Jahren ist der Abbau sozialer Rechte und Leistungen, sind Arbeitsplatzvernichtung, Arbeitszeitverlängerung, Rentenkürzungen, Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs. Der schamlose Raubzug gegen die vielen steigert sich jetzt in einen Rausch: Die unvorstellbaren Summen, die in einer virtuellen Finanzwirtschaft verfeuert worden sind, werden sozialisiert und auf die Bevölkerung umgelegt. Finanzkrise, Energiekrise, Nahrungsmittelkrise, Kriege: Woran in der dritten Welt Menschen massenhaft sterben und sterben werden, das wird in den Metropolen des Kapitalismus mindestens zu Massenarmut und Verelendung führen.

Das sind die „Erfolge“ des Kapitalismus, 20 Jahre nachdem uns das „Ende der Geschichte“ verkündet wurde. Daran sollte man denken am 9. November, wenn uns im Fernsehen zu x-ten Mal der Fall der Mauer als ein glückhaftes Ereignis der Geschichte vorgeführt wird.